Küss mich, Muse!
Vielleicht liegt es daran, dass mich die Muse nicht küssen mag? Solche Gedanken kommen während des Wartens auf den Musenkuss… Dabei kann das nicht sein, denn ich kenne andere, die mit der Dame um jeden Kuss feilschen. Doch manche Menschen scheint die Muse lieber zu mögen und häufiger zu küssen. So habe ich mich gefragt: Woran liegt das?
Genau wie jeder Text eine Zielgruppe hat, so hat auch die Muse Vorlieben. Die richtige Frage muss also heißen: Wie werde ich zur Zielgruppe der Muse? Was muss ich tun, dass die Muse mich attraktiv findet und küssen will?
Die Antwort: Musen mögen Macher. Denn vor allem muss ich arbeiten. Nicht Löcher in die Luft starren oder trödeln. Nicht zum x-ten Mal aufs Handy schauen, nicht zwischendurch aufstehen, die Blumen gießen, putzen, Tee kochen oder die Gedanken abschweifen lassen. Offensichtlich steht die Muse auf Menschen, die arbeiten, auf emsige Bienen und fleißige Arbeitsameisen.
Wie ich darauf komme? Weil ich mich gar oft schwer tue, etwas „halbwegs Lesbares“ zu schreiben. Jeden Satz ringe ich mir ab, kämpfe mit jeder Formulierung, stelle die Reihenfolge mindestens dreimal um. Lösche den Absatz wieder und fange von vorne an. Verfluche währenddessen die Muse, die mich subjektiv gefühlt im Stich lässt. Die mich wieder einmal ignoriert und mir nicht hilft. Und ebenso regelmäßig bin ich von der Qualität meines eigenen Werkes positiv überrascht, wenn ich den Text am folgenden Tag durchlese.
Daraus schließe ich zwei Dinge: Erstens wurde ich ganz offensichtlich während des zäh erscheinenden Schaffensprozesses doch von der Muse geküsst. Und zweitens habe ich diesen Kuss nicht bemerkt, während er stattfand.
Die Muse ist also ein scheues Wesen. Sie muss ihr Ego nicht damit aufbauen, dass sie den Schaffenden ihre Präsenz spüren lässt. Sie bläst sich nicht auf, gibt nicht mit ihrem Einfluss an. Statt dessen schaut sie am Schreibtisch vorbei – und fühlt sich fehl am Platz, wenn gerade in die Luft gestarrt wird. Denkt sich, dass sie jetzt da nicht gebraucht werde… und verschwindet wieder. Findet sie jedoch jemanden, der arbeitet, dann freut sie sich. Und je mehr der Schreiber sich müht, umso mehr freut sie sich. Dann haucht sie hier ein Küsschen hin und dort eines. Nur alle Schaltjahre mal hat sie Lust auf wildes Geknutsche, das Zeit und Raum vergessen lässt. Viel lieber verteilt sie unmerkliche, zarte Küsse.
Die Muse hat übrigens auch ein Lieblingswort – es lautet „mühselig“. Denn zuerst kommen im Schaffensprozess die Mühe, dann die sanfte Muse, und letztendlich die Seligkeit…
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