Das Netzwerk Texttreff hat eine unerschöpfliche Vielfalt an Expertinnen zu bieten, die wundervolle Dinge mit Buchstaben anstellen. Sie können uns beispielsweise an fremde Orte mitnehmen, lassen uns mit allen Sinnen erleben, was wir nie selbst gehört, geschmeckt, gesehen oder gefühlt haben.
Alice Grünfelder von Literaturfelder ist eine von diesen Künstlerinnen, die andere mit Texten auf Reisen schickt. Sie ist zudem „Lektorin, Literaturvermittlerin, Einzel- und Teamkämpferin, Herausgeberin, Autorin, Übersetzerin, Buchhändlerin und Festivalkuratorin“. So fasst es meine Kollegin Birte Vogel in ihrer Porträtreihe zusammen.
Liebe Alice, danke für deinen Gastbeitrag auf „Scheiben als Beruf“ zum Thema „Reisereportagen“, verschenkt als Blogwichtel!
Alice Grünfelder. Foto: Monica Mutti
Blauer wolkenloser Himmel und weites Meer.
Tatsächlich? Ist der Himmel nicht ohnehin blau, wenn er wolkenlos ist? Versprechen Hotelprospekte und Tourismusportale nicht eben einen grandiosen Ausblick auf ein weites Meer? Deshalb liest man über solche Beschreibungen hinweg, weil sie verbraucht sind, deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen.
Welche Schattierungen sind am Himmel auszumachen, welcher Wellengang versetzt das Meer in Aufruhr? Die nächstliegende Beschreibung vermeiden, das Klischee brechen, stattdessen mithilfe des Stifts (oder den Tasten eines Smartphones, eines Tablets) die Wahrnehmung schärfen. Das ist ein erster Vorteil, wenn Sie schreibend unterwegs sind.
Auf dem Bazar riecht es nach Gewürzen.
Das ist nicht anders zu erwarten, oder? Aber vielleicht riecht es auch unerwarteterweise nach etwas ganz anderem? Präzise Beobachtungen, Sinneswahrnehmungen und Begriffe können eine konkrete Welt vor dem inneren Auge entstehen lassen. Riecht es nach Curry, nach Paprika, nach Pfeffer? Oder womöglich nach Urin? Und schon haben wir einen genauen Geruch in der Nase. Gehen wir durch einen Birken- oder Tannenwald? Schon sehen wir das Licht, den Boden, der sich eben von Wald zu Wald unterscheidet. Hierin ist das Schreiben gegenüber der Fotografie im Vorteil, denn schreibend lassen sich auch sensorische Empfindungen festhalten.
Am Anfang des Artikels spricht jemand … und am Ende dieselbe Person wieder.
Das ist eine recht gängige Struktur von Reisetexten, dadurch wird das Beschriebene absehbar. Dem Zitat am Anfang folgt ein historischer Abriss, dann kommt die Gegenwart, die wiederum in einem Zitat endet. Ich überfliege deshalb meistens die unwichtigen Stellen und konzentriere mich auf das, was mich interessiert. Schade für den Text, den Sie geschrieben haben, der ungelesen bleibt. Brechen Sie mit dieser Form, suchen Sie sich eine neue!
Ich weiß es besser und erzähle Euch davon.
Leider finden sich auch heute noch in Berichten über andere Länder herablassende Bemerkungen, die aus einem Vergleich des Eigenen mit dem Anderen entstehen; ein Vergleich, dem man zugegeben nur schwer entkommt, weil man sich selbst immer hinterherschleift. Nur sollte das einem bewusst sein, damit man spätestens bei der Überarbeitung des Textes diese Stellen eliminiert. Oder sich eine einheimische Testleserin sucht, erzählte mir die Reiseautorin Constanze John (http://www.constanzejohn.de/) kürzlich. Doch auch das Gegenteil kommt und kam seit je in der Reiseliteratur vor, das scheinbare vollkommene Verschmelzen mit der indigenen Kultur; solche Texte neigen dazu, vor Pathos und Unaufrichtigkeit zu triefen. Wie also die richtige Nähe finden? Indem dieser Punkt wieder und wieder abgeklopft wird, um nicht in diese Falle zu tappen.
Ich schreibe ein Buch über eine Reise, ein Land, das es so noch nicht gegeben hat.
Blickt man zurück in die Geschichte der Reiseliteratur, finden sich von einem Helden, der zu einer Reise aufbricht, über den Pilgerbericht bis hin zu Reportagen sämtliche Genres. Auch gibt es kaum noch eine Weltgegend, über die noch nicht geschrieben wurde. Warum also nicht einmal die Perspektive wechseln? Oder das Sinnesorgan, statt alles visuell zu beschreiben, sich dem Hörsinn anvertrauen, wie ich es einmal in Hongkong versuchte? Genauso gut ließe sich motivisch arbeiten, indem beispielsweise anhand der Hotelzimmer, der Toiletten, Stadtbäume und Schuhläden sich Rückschlüsse auf das Land, die Region ergeben, der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Oder, wie der Reisejournalist Stefan Schomann (https://www.stefanschomann.de/startseite) es sagt: „Nicht der Erste sein, der dort ist, sondern der als Bester über den Ort schreibt.“
Trotzdem: Das Schreiben auf Reisen schärft die Wahrnehmung; Notizen lassen sich später zu Texten verarbeiten, kombiniert mit recherchierten Informationen; bebildert können aus Kurztexten Collagen entstehen oder Postkarten; ändern Sie Ihren Blickwinkel, damit Sie das Land aus einer anderen Perspektive kennenlernen.
Links zum Weiterlesen:
Ein Interview mit Stefan Schomann über das Reisen und Schreiben darüber. https://www.literaturfelder.com/vom-reisen-und-schreiben/
Wie aus Notizen ein Buch geworden ist, zeigt sich am besten an meinem Buch „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land.“ https://www.literaturfelder.com/wolken-ueber-taiwan/“ / oder https://rotpunktverlag.ch/buecher/wolken-uber-taiwan