Ricarda Essrich ist Fach- und Literaturübersetzerin.
Für die Interviewreihe „Die KI und ich – Wie die KI meine Arbeit verändert hat“ hat sie einiges zu sagen, ist sie doch sehr aktiv im Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer.
Ihr Fazit:
Die KI-Tools sind für mich ein Werkzeug wie meine Software und Wörterbücher auch.
INHALT:
Herausforderungen & negative Aspekte
Ethische & zukünftige Überlegungen

Foto: Martina Wärenfeldt
Einstieg & Überblick
Kannst du uns kurz deinen beruflichen Hintergrund und deine Spezialisierung erläutern?
Ich bin Fach- und Literaturübersetzerin für die skandinavischen Sprachen. Als Fachübersetzerin arbeite ich für Kunden aus der Baubranche und anderen Industrien und habe es mit technischen und administrativen Dokumenten zu tun. Als Literaturübersetzerin habe ich mich auf Krimis und Kochbücher spezialisiert. Aber auch Romane und Jugendbücher waren schon dabei.
Dazu arbeite ich als Texterin für Unternehmenskommunikation, mit einem leichten Schwerpunkt auf Unternehmen im Bereich SaaS, Logistik und Supply Chain Management sowie natürlich in der Bauindustrie.
Wann und wie bist du zum ersten Mal mit KI-basierten Schreibwerkzeugen in Berührung gekommen?
Das erste Werkzeug dieser Art, das im weitesten Sinne KI-basiert ist, war DeepL. Maschinelle Übersetzung ist in unserer Branche, vor allem bei den Fachübersetzungen, seit vielen Jahren ein Thema, aber erst mit der Entwicklung von DeepL konnte man wirklich von brauchbaren Ergebnissen reden. Das hat die Übersetzungsindustrie ordentlich durcheinandergewirbelt.
Mit dem Aufkommen von ChatGPT kam ich dann auch mit generativer KI in Berührung, anfangs noch nur zu Testzwecken und mit nicht wirklich guten Ergebnissen, was Übersetzungen betrifft.
Welche KI-Tools oder -Anwendungen nutzt du derzeit am häufigsten in deinem Arbeitsalltag?
Neben DeepL kommt bei mir vor allem ChatGPT beinahe täglich zum Einsatz, sowohl bei den Fachübersetzungen als auch für Literatur. Allerdings in aller Regel nicht zur Übersetzung ganzer Textteile, sondern zur Anregung, als Formulierungshilfe oder für Recherche.
Für Recherche nutze ich außerdem Perplexity.
Zur Texterstellung kommt Claude Sonnet häufig zum Einsatz, weil es meist andere (bessere?) Ergebnisse liefert als ChatGPT. Andererseits hat ChatGPT seit der Einführung von Projekten, die man jeweils mit spezifischen Informationen und Referenzdateien füttern kann, auch beim Texten die Nase vorn.
Positive Auswirkungen
In welchen Bereichen hat KI deine Arbeitseffizienz gesteigert? Kannst du konkrete Beispiele nennen?
Ich probiere viel aus, daher kostet KI mich im Moment eher eine Menge Zeit. Aber die meisten Effizienzgewinne erreiche ich derzeit mit der Projektfunktion in Chat-GPT. Ich betreibe ein Portal mit Nachrichten aus der skandinavischen Bauindustrie (Skand.Baunews), für das ich 3-4 Beiträge pro Woche schreibe. Meist sind das übersetzte Artikel aus schwedischen, norwegischen oder dänischen Branchenmedien.
Die Recherche funktioniert noch nicht (gut) mit KI, aber die Übersetzung und Erstellung von zugehörigen Sekundärtexten wie LinkedIn-Beiträgen, title und description etc. geht jetzt viel schneller, weil ich in ChatGPT ein Projekt angelegt habe, in dem alle relevanten Informationen und Arbeitsanweisungen für diese Artikel gespeichert sind. Auch für Texte meiner Kunden und Texte über mich habe ich jeweils Projekte angelegt. Das spart schon deshalb viel Zeit, weil man nicht jedes Mal wieder neue Briefing-Angaben machen muss.
Hat KI dir geholfen, neue kreative Ansätze zu entwickeln oder „Schreibblockaden“ zu überwinden? Wenn ja, wie?
Grundsätzlich schätze ich KI-basierte Schreibwerkzeuge als Mittel gegen das weiße Blatt. Häufig bleibt am Ende nicht viel übrig vom KI-Ergebnis, wenn ich es mit texterischen Sachverstand und kundenspezifischen Anforderungen überarbeitet habe. Aber ich habe erst mal einen Ansatzpunkt und kann die Ideen weiterentwickeln oder auch verwerfen.
Auch für Themenfindung und Gliederungen eignen sich die Tools – jedenfalls wenn man inhaltlich fit genug ist, um zu beurteilen, ob das, was die KI vorschlägt, wirklich sinnvoll und richtig ist.
In der Literaturübersetzung helfen mir ChatGPT und Claude dabei, Ideen für Wortspiele, Reime, Gedichte etc. zu finden. Denn ein Wortspiel im schwedischen Ausgangstext funktioniert ja meist im Deutschen nicht, wenn man es 1:1 übersetzt.
Und gerade freue ich mich über die Recherche mit Perplexity, weil ich für die Übersetzung eines historischen Romans viele Begriffe aus historischen Kontexten brauche und hier mit Quellen belegte Ergebnisse bekomme.
Gibt es bestimmte Aufgaben, die du dank KI nun schneller erledigen kannst und durch die du mehr Zeit für andere Aspekte deiner Arbeit hast?
Siehe oben das Beispiel meines Nachrichtenportals. Die Arbeit an dem Portal ist unbezahlt, ich nutze das Medium zur Profilbildung für meine Kunden aus der Bauindustrie. Es besteht seit 10 Jahren und enthält mehr als 1000 Artikel. Jeder Beitrag braucht um die 30 Minuten für Artikelrecherche, Übersetzung, Einbau ins CMS inkl. SEO, Bildrecherche und Posting in den sozialen Medien.
Jetzt geht zwar immer noch viel Zeit für die Artikelrecherche drauf, aber die anderen Aufgaben gehen viel schneller – und ich arbeite an der Automatisierung bestimmter Steps, um noch mehr Zeit zu sparen. Das bringt mir jeden Tag mehr Zeit für bezahlte Arbeit.
Hat die Nutzung von KI-Tools zu einer Erweiterung deines Angebots oder deiner Dienstleistungen geführt?
Noch nicht direkt – außer dass ich inzwischen für KI-Weiterbildungen für Kollegen in der Literaturübersetzung und Studierende in der Skandinavistik angefragt werde. Aber ich möchte gerne meine Kunden zukünftig zu ihren Use Cases in der Kommunikation beraten. Dafür investiere ich gerade auch in entsprechende fortgeschrittene KI-Schulungen.
Herausforderungen & negative Aspekte
Welche Herausforderungen oder Schwierigkeiten hast du bei der Integration von KI in deinen Workflow erlebt?
Der sicher größte Faktor ist der Zeitaufwand für Trial and Error. Du kannst Webinare und Seminare belegen und dabei allerlei Dinge lernen, aber wenn du sie auf deine Anwendungsfälle übertragen möchtest, funktioniert es in aller Regel nicht auf Anhieb. Bei mir war das zum Beispiel die Automatisierung bestimmter Schritte. Ein einfacher Workflow, um den LinkedIn-Post meiner Skand.Baunews automatisch auch auf der Facebook-Seite zu posten, ist eben doch nicht so einfach wegen gekürzter Links und schlecht verarbeiteter Hashtags. Das zu lösen kostet Stunden – die man auch erst mal mit der Automatisierung wieder reinholen muss, wenn Copy/Paste ja auch nur wenige Klicks kosten würde.
Die zweite große Herausforderung ist, mit der Entwicklung Schritt zu halten und den Überblick zu behalten. Jeden Tag tauchen irgendwo fünf weitere spannende Tools auf, die theoretisch Effizienzgewinne oder Kreativitätsschübe bringen könnten.
Und schließlich sind da die Kosten. Klar, wenn man täglich damit arbeitet, lohnen sich 20$ für ChatGPT. Und 20$ für Perplexity. Und 10$ für Midjourney, wenn man auch noch Bilder erstellen möchte. Und die Jahresgebühr für Canva, um Designs für Social Media zu erstellen. Aber ob die Gewinne im Endeffekt so groß sind, dass sich die hohen Kosten auch lohnen? Da muss man sorgfältig auswählen und gut überlegen, welche Tools nun wirklich sinnvoll sind.
Inwieweit hat sich deine Rolle als Übersetzerin durch den Einsatz von KI verändert? Siehst du die Gefahr einer Entwertung bestimmter Fähigkeiten?
Das ist in unserer Branche längst passiert. Übersetzen kann jetzt jeder mit Google Translate, DeepL oder auch ChatGPT. Ob die Ergebnisse auch inhaltlich und sprachlich korrekt sind, können Laien nicht beurteilen. Aber für viele Nutzer reicht die Qualität, die sie bekommen.
Früher konntest du dich als spezialisierte Fachübersetzerin gut positionieren und mit deiner Expertise argumentieren. Das ist heute viel schwerer. Und wer bisher nicht spezialisiert, sondern als Generalistin unterwegs war, hat kaum noch etwas zu tun. Denn der Generalist ist jetzt ChatGPT. Oder DeepL.
Diese Entwicklung wirkt sich disruptiv auf unsere Branche aus. Zahlreiche Kolleg:innen klagen über zu wenig Aufträge, nicht wenige suchen sich (branchenfremde) Anstellungsverhältnisse in Teilzeit, um über die Runden zu kommen. Oder geben den Beruf ganz auf und orientieren sich neu.
In der Literaturübersetzung wird der Wert der Humanübersetzung durchaus noch gesehen, auch wenn es hier bereits Bestrebungen einiger Verlage gibt, Bücher nicht mehr übersetzen, sondern maschinengenerierte Übersetzungen posteditieren zu lassen – zu einem Bruchteil des sonst anfallenden Übersetzungshonorars. Für die Übersetzer:innen ein großes Problem: Zum einen verdienen sie viel weniger, obwohl so ein Postediting in aller Regel keine Zeitersparnis bringt, sondern häufig sogar länger dauert. Zum anderen verzichten sie damit auf ihre Urheberrechte am deutschen Text.
Gibt es Aspekte deiner Arbeit, bei denen KI-Tools (noch) keine sinnvolle Unterstützung bieten oder sogar hinderlich sind?
Bei der Übersetzung von Marketingtexten sind KI-Tools für mich meist eher hinderlich, weil sie sich zu nah am Ausgangstext orientieren und mir den Blick auf kreativere, kundengerechte Lösungen verstellen. Man läuft Gefahr, sich von dem ersten Ergebnis blenden zu lassen, weil es schon recht gut aussieht.
Wie stellst du sicher, dass die Qualität deiner Arbeit nicht unter dem Einsatz von KI leidet?
Wenn ich sie habe, durch Zeit. KI-generierte Texte lasse ich auch nach der Bearbeitung nach Möglichkeit noch mindestens einen Tag liegen. Dann schaue ich mir den Ausgangstext oder das Briefing noch einmal an und lese den Text erneut.
Mein wichtigstes Werkzeug zur Qualitätssicherung sind Mund und Ohren – egal ob die Texte/Übersetzungen mit oder ohne KI entstanden sind. Ich versuche, mir jeden Text laut vorzulesen. Dabei entdecke ich noch viele problematische Stellen, Formulierungen, die nicht idiomatisch sind, schiefe Bilder etc.
Ethische und zukünftige Überlegungen
Welche ethischen Fragen oder Bedenken siehst du im Zusammenhang mit der Nutzung von KI im Schreibbereich (z.B. Urheberrecht, Originalität, Transparenz)?
Ich denke, dass das Thema Urheberrecht im Zusammenhang mit KI-generierten Texten eine elementare Rolle spielt und uns Literaturübersetzer umtreiben wird. Bei der VG Wort muss man jetzt bei der Meldung von Titeln oder Texten ein Häkchen setzen, dass man versichert, den Text nicht „ausschließlich“ mit KI erstellt hat. Aber wer definiert, was „nicht ausschließlich“ bedeutet? Reicht es, wenn ich einen Satz selbst geschrieben habe? Oder zehn Prozent?
Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie viel geistige Schöpfung nötig ist, um Urheberrechte zu erlangen. Und wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir die Rechte der Urheber schützen können, mit deren Texten die KI-Systeme trainiert werden. Bzw. wie die Nutzung dieser Rechte lizensiert und vergütet werden kann.
Wie gehst du mit dem Thema Transparenz gegenüber deinen Kunden um, wenn du KI-Tools in deinem Schreibprozess einsetzt?
In der Regel erwähne ich das nicht. Die KI-Tools sind für mich ein Werkzeug wie meine Software und Wörterbücher auch. Meinen Kunden ist auch egal, wie ich ihre Texte erstelle, Hauptsache, die Ergebnisse entsprechen den Vorstellungen. Jedenfalls habe ich anfangs diese Erfahrung gemacht, wenn ich sie auf die Nutzung von KI hingewiesen habe.
Für mich ist dabei aber auch selbstverständlich, dass ich sehr sorgfältig mit den Daten meiner Kunden umgehe und weder Kundentexte noch persönliche Daten oder Ähnliches ungefiltert in den Systemen verarbeite.
Bei Verlagen tauchen immer häufiger Klauseln in den Übersetzungsverträgen auf, die die Nutzung von KI reglementieren. In solchen Fällen muss ich kommunizieren, wenn ich KI einsetzen möchte, und das tue ich auch.
Welche Kompetenzen oder Fähigkeiten werden deiner Meinung nach in Zukunft für Content Manager besonders wichtig sein, um sich im Zeitalter der KI zu behaupten?
Wir müssen uns aktiv mit neuen Technologien auseinandersetzen und diese soweit beherrschen, dass wir sie verstehen und die Ergebnisse beurteilen können. Denn wir brauchen sachliche Argumente, wenn wir unseren Kunden noch Humanübersetzungen verkaufen möchten. Qualitätsaspekte, Datenschutz und Urheberrechtsfragen könnten solche Argumente sein. Und wir werden nicht darum herumkommen, diese Technologien selbst auch einzusetzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dabei brauchen wir einen kritischen Blick und sehr gute „analoge“ Kenntnisse unseres Metiers. Denn die Ergebnisse von KI-Tools werden immer besser und qualitative Schwächen sind immer schwerer zu durchschauen.
Wie schätzt du die langfristigen Auswirkungen von KI auf die Schreibbranche ein? Wird KI bestimmte Berufe ersetzen oder eher ergänzen?
Angesichts der rasanten Entwicklungen, die KI-Tools derzeit machen, wage ich kaum eine Prognose. Aber kurz- bis mittelfristig werden die Systeme immer mehr Aufgaben übernehmen und Laien befähigen, selbst Texte zu schreiben oder zu übersetzen. Das werden wir nicht aufhalten. Generalist:innen haben schwere Karten. Ich glaube aber auch, dass über kurz oder lang individuell erstellte, hoch kreative Leistungen wieder „in“ werden und sich Unternehmen damit brüsten, sich Humanübersetzer:innen oder -texter:innen leisten zu können. Bis dahin heißt es durchhalten.
Welchen Rat würdest du anderen Übersetzern und Übersetzerinnen geben, die sich mit dem Thema KI auseinandersetzen möchten?
Keine Angst haben. KI-Tools zu verstehen und zu nutzen, ist nicht so schwer, es gibt zahlreiche niederschwellige Angebote, um es zu lernen, auf YouTube zum Beispiel findet man massenhaft Anleitungen zu eigentlichen jedem Tool und für jeden Kenntnisstand. Und dann einfach loslegen. Die meisten Tools haben kostenlose- oder kostengünstige Einstiegstarife, und so kann man ausprobieren, welche für die eigene Arbeit am sinnvollsten sind.